„Ich will nicht länger diese Zahnschmerzen haben.“ – „Ich hasse den Baulärm hier vor dem Büro.“ – „Dieser blöde Kollege mit seiner Klüngelei.“
Es sollte anders sein! Jedoch, es ist, wie es ist. Mist.

Was nun: Im Nein verharren oder sich für das Anerkennen und Fühlen des gegenwärtigen Moments öffnen?
“Oh, wie schön ist dieser Sonnenuntergang!“
Er wird kurz registriert und gleich fotografiert. Anstatt das Naturszenario bewusst mit allen Sinnen zu genießen und wirklich in dem beglückenden Moment präsent zu sein, geht es gleich weiter – in dem Wissen, dass der Sonnenuntergang konserviert ist und man ihn später zuhause noch mal anschauen kann.

Ob es sich um Situationen handelt, die wir als unangenehm oder angenehm erleben, wir sind vielfach mit unserer Aufmerksamkeit nicht voll im Hier und Jetzt. Anstatt im Hier sind wir dort, wo wir meinen, dass es besser ist – anstatt im Jetzt sind wir bereits in der Zukunft.

Achtsamkeit

Heutzutage ist Achtsamkeit ein viel verwendetes Wort und Achtsamkeitstrainings werden stark besucht. Was hat es mit diesem Zauberwort auf sich, das gerade so „in“ ist? Ist dieser Übungsweg neu? Nein. Eine uralte Praxis aus spirituellen Lehren verschiedener östlicher Traditionen ist durch Jon Kabbat-Zinn im Westen populär geworden, nachdem er wissenschaftlich die positiven Wirkungen für den gestressten modernen Menschen aufgezeigt hat. Dies entdeckte ich eines Tages zu meiner Überraschung in Holland – ungefähr vor 15 Jahren.

Präsenz im Hier und Jetzt

Ich war gerade umgezogen und durchstöberte den Buchladen in der Nähe meiner neuen Wohnung. Da entdeckte ich eine ganze Reihe von Büchern zum Thema “Mindfulness“. (In Holland wird allgemein der englische Begriff verwendet anstatt einer Übersetzung in die eigene Sprache.) Was ist denn das? Ich war fast etwas erschrocken: Hatte ich hier etwas nicht mitbekommen? Ich meditierte seit langem, beschäftigte mich mit Körpertherapie und humanistischer Psychologie, aber Mindfulness war mir noch nicht begegnet.

Neugierig nahm ich ein paar Bücher aus dem Regal, las das Inhaltsverzeichnis, den Rückkörper und sonst ein paar Zeilen. Kurz darauf konnte ich mich wieder entspannen. Es handelte sich um etwas Altbekanntes – lediglich in neuer Verpackung.

Ich hatte im Alter von 17 Jahren mit Zen-Meditation begonnen; dort sprach man von Aufmerksamkeit oder Wachheit. Kurz darauf hatte ich in meiner Ausbildung zur Körpertherapeutin viele Übungen zur Wahrnehmungsschulung kennen gelernt; in der folgenden atemtherapeutischen Ausbildung ging es um die Präsenz bei jedem Atemzug. Offensichtlich war Achtsamkeit schon lange ein Element in meiner Arbeit – nur wusste ich es nicht und daher kam dieses Wort in meinen Kursbeschreibungen nicht vor.

Achtsamkeit beim Kirschenpflücken

Ich erinnere mich an ein Erlebnis im Gesundheitspark in München Anfang der Achtzigerjahre. In einer Gruppe war ein pensionierter Herr, den ich öfters bei den Dehn- und Bewegungsübungen daran erinnerte, nicht die Luft anzuhalten. Seine Selbstwahrnehmung hatte sich im Laufe der Wochen Schritt für Schritt erhöht und eines Tages erzählte er Folgendes: „Letzte Woche habe ich Kirschen von unserem großen Baum im Garten geerntet. Ich stand auf der Leiter und sah plötzlich hoch oben noch ein paar besonders dicke Kirschen. Die will ich haben! Also streckte ich meinen Arm so weit wie möglich aus. Das muss doch gehen. Ich geriet auf meiner Leiter in eine recht labile Gleichgewichtsposition und war recht angespannt. Da hörte ich plötzlich deine Stimme: Hans, atmen, atmen! Ein Lächeln kam auf mein Gesicht. Ich atmete durch, entspannte mich und spürte meine Füße auf der Leitersprosse. Dann streckte ich erneut den Arm aus – sehr bewusst, wie bei den Übungen im Kurs. Plötzlich reichte er viel weiter und ohne größere Mühe konnte ich die Kirschen pflücken. Hurra!“ Die ganze Gruppe war berührt von seiner Geschichte. Das war „angewandte Kunst“ im Alltag.

Vom Gedankenkarussell hin zur sinnlichen Wahrnehmung

Oft entschwindet die Achtsamkeit, wenn wir zu krampfhaft etwas wollen; wenn wir meinen, etwas tun oder haben zu „müssen“. Wir landen geistig in einer Einbahnstraße; dann scheint nur ein Weg nach Rom zu führen. Dies erzeugt übermäßige Anspannung und Anstrengung. Vielfach ist es auch unser hohes Tempo, welches keinen Raum für Achtsamkeit lässt. Wir wollen nicht hier sein, sondern am liebsten schon dort, wo das Ziel bereits erreicht ist.

Achtsamkeit bedeutet, dem Jetzt die volle Aufmerksamkeit zu schenken und den gegenwärtigen Augenblick unmittelbar mit allen Sinnen wahrzunehmen – ohne Urteil und Bewertung; mit ganzer Aufmerksamkeit sowohl bei sich selbst als auch in der momentanen Situation präsent zu sein.

Diese Haltung ist diametral entgegengesetzt zum „Multitasking“, dem Trend unserer Zeit, der unweigerlich Unachtsamkeit nach sich zieht. Für diesen Lebensstil zahlen wir einen hohen Preis: er zerrt an unseren Kräften, lässt uns atemlos, kopflastig, unausgeglichen und müde werden.

Das Üben von Achtsamkeit setzt bei einfachen Dingen an: beim atmen, hören, stehen und gehen, Essen, Zähneputzen … Achtsamkeit entschleunigt unseren Alltag; es führt zu innerer Gelassenheit, Konzentration und Klarheit.

Unseren Gefühlen begegnen

Auch schmerzhafte Erfahrungen sind Teil unseres Lebens und es gilt auch hier, ganz präsent zu sein. Kennen Sie Folgendes? Eine Situation ist völlig anders gelaufen, als Sie es sich vorgestellt haben. Sie sind sehr frustriert und denken: “Oh, no!“ Die Erfahrung ist schmerzlich und tief innen fällt die Entscheidung: Das will ich nicht fühlen. Daraufhin stürzen Sie sich in alle möglichen Geschäftigkeiten, um der Begegnung mit dem momentanen Gefühl zu entfliehen.

Wir befinden uns im Raum der Unachtsamkeit, wenn wir abwehrend symbolisch die Hände nach vorne strecken und einer Erfahrung signalisieren: Bleib mir vom Leib, ich will dich nicht fühlen. Einer meiner Lehrer sagte immer: „Don’t supress and don’t express; be with your sensation.“ Es geht darum, Gefühle weder zu unterdrücken, noch sie auszuagieren – sondern ihnen zu begegnen: sie anzuerkennen, anzunehmen und mit ihnen zu „sein“. Als stiller Beobachter wahrnehmen, was gerade geschieht, ohne sich in die Erfahrung zu verstricken: das heißt, sich nicht mit den Gedanken, Gefühlen und Körperempfindungen zu identifizieren.

Das Herz als Schlüssel fürs „Ja“ zum Augenblick

Das Herz ist fähig, ohne Urteile alles sein zu lassen, was sich zeigt – und so auch schmerzliche Erfahrungen zuzulassen und zu durchfühlen. An Stelle von Mindfulness habe ich in Holland gerne von Heartfulness gesprochen. Ein Achtsamkeitstraining geht für mich Hand in Hand mit der Stärkung der Herzenskräfte. Je mehr es uns gelingt, aus dem nicht-wertenden Raum des Herzens unsere Erfahrungen zu umarmen, können wir Frieden mit dem jeweiligen Moment finden – egal was passiert. Der Konflikt zwischen dem, was ist und den Vor-Stellungen unseres Verstands, wie es sein sollte, löst sich auf. 

Schauen wir mit den Augen des Herzens, erscheinen Dinge in einem neuen Licht. Achtsamkeit zu leben, heißt für mich, mit offenem Herzen der Fülle des Lebens zu begegnen: mit all seiner Freude und all seinem Schmerz – in mageren wie in satten Jahren.

„Deine Verabredungen mit dem Leben ist in diesem Moment.“ Thich Nhat Hanh