Einführung

Um maximal von den beiden Übungseinheiten zu profitieren, möchte ich Sie bitten, sich erst die Zeit zu nehmen, unten stehenden Einführungstext zu lesen. Er erhält Hintergrundinformationen, wieso Ihr vegetatives Nervensystem angesichts eines Zahnarztbesuches mit solch einer heftigen Stressreaktion antworten kann und Hinweise aus neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie Sie gezielt Ihr Nervensystem und Ihr emotionales Gehirn beeinflussen können, um Ihre Angst zu überwinden.
Woher kommt es, dass so viele Menschen Angst vorm Zahnarzt haben? Hierzu ist es hilfreich, etwas über die Funktionsweise unseres Gehirns und unseres Nervensystems zu wissen. In der Mitte unseres Gehirns liegt der älteste Teil, der Gehirnstamm, den wir schon seit Urzeiten haben. Er ist verantwortlich für unsere Instinkte sowie für Überlebensreaktionen und registriert drohende Gefahr. Dann erleben wir Angst und das Gehirn reagiert mit Angriff oder Flucht – der klassischen Stressreaktion. Obwohl sich unser Gehirn im Laufe von Millionen Jahren enorm entwickelt hat, gelten auch im 21. Jahrhundert immer noch die Prioritäten aus der Frühzeit der Evolution: in erster Linie geht es ums Überleben.
Dieser Mechanismus ist in Notfallsituationen hilfreich, wenn unsere Sicherheit und unser Leben real bedroht sind; z.B. wenn ein Auto von der Fahrbahn abgekommen ist und uns auf dem Bürgersteig entgegen rast. In vielen Situationen des modernen Lebens ist das Überlebensprogramm allerdings weniger praktisch; nämlich dann, wenn es sich nicht um drohende Lebensgefahr handelt – z.B. beim Zahnarzt.

Unser Körper ist verletzbar; er will leben, er hat Angst zu sterben. Diese Urangst gehört zum Menschsein auf dieser Erde. Unser Gehirn hat im Laufe der Evolution Erfahrungen gespeichert, dass der Körper neben dem natürlichen Tod auch gequält, gefoltert, missbraucht und mutwillig zerstört werden kann. Diese biologische Angst in uns gilt es anzuerkennen.
Der „gewaltsame“ Eingriff in die Materie eines Zahns wird vom Gehirn als Bedrohung registriert, es entsteht Angst und der Stressmechanismus wird ausgelöst. Der Sympathikus, jener Teil des vegetativen Nervensystems, der für Bewegung und Aktion zuständig ist, wird hochgradig aktiviert, um Kampf oder Flucht zu ermöglichen. Das Nervensystem „rast“ und Angst breitet sich aus. So ähnlich sieht der Zahnarztbesuch aus der Perspektive Ihres Stammhirns aus.

Das Bewusstsein eines Menschen im 21. Jahrhundert betrachtet die Situation natürlich anders. Der Zahnarzt oder die Zahnärztin, die wir uns ausgesucht haben, sind sympathisch. Sie trachten uns nicht nach dem Leben, sondern unterstützen mit ihrer Behandlung die Gesundheit unserer Zähne. Bisher haben alle Leser dieser Zeilen den Zahnarztbesuch überlebt. Zugegeben, die Zahnbehandlung war oft auch mit Schmerz verbunden bzw. es hat später unangenehm weh getan, als die Wirkung der Spritze nachließ. Diese Information aus persönlich Erlebtem ist wiederum in unserem Gehirn gespeichert und wenn wir dann das nächste Mal zum Zahnarzt gehen, kann selbst das Geräusch des Bohrers eine Stressreaktion auslösen, obwohl er noch weit weg ist von unseren Zähnen; oder das Bemerken einer Spritze, die sich unserem Mund nähert. Unsere Angst vor Schmerz wird aktiviert und der Stressmechanismus kommt in Gang angesichts der „bedrohlichen“ Situation.

Je nachdem, in welchem Maße wir in der Vergangenheit unangenehme Erfahrungen bei einem Zahnarztbesuch gemacht haben, wie stabil unser vegetatives Nervensystem gerade ist und wie groß unser Vertrauen ins Leben, fällt die Stressreaktion mehr oder weniger heftig aus. Es ist wichtig zu wissen, dass es sich hier nicht lediglich um eine individuelle Einzelerfahrung handelt, die aktuell gerade gemacht wird, sondern dass dahinter eine Menge Information steht: sowohl aus unserer eigenen Vergangenheit als auch aus der Evolution des Menschen. All dies ist im Gehirn gespeichert, wird jetzt abgerufen und löst die – oft unverständliche und heftige – Reaktion aus, mit welcher der Einzelne konfrontiert ist. Der Zahnarztbesuch triggert letztlich eine Urangst: die Angst vorm verletzt werden und sterben. Es entsteht eine nicht-adäquate Reaktion auf die reale Situation beim Zahnarzt; der Verstand sieht dies klar, vermag aber die Angst nicht abzustellen. Für eine Erleichterung der Situation ist es notwendig, tiefere und unbewusste Schichten mit einzubeziehen.

Versuchen Sie bitte, die Situation mal aus der Perspektive Ihres Gehirns und des Nervensystems zu betrachten: Ihr vegetatives Nervensystem meint es gut mit Ihnen. Es möchte Ihnen helfen, Gefahrensituationen und Schmerz zu vermeiden. Deshalb ist es in den Modus erhöhter Wachsamkeit bzw. in einen Alarmzustand gegangen.
Wie nimmt Ihr Bewusstsein die Situation wahr? Ist Ihr Leben bedroht angesichts eines Besuchs beim Zahnarzt? Ich vermute, die Antwort Ihres logisch denkenden Verstandes lautet: „Nein“. Es ist ratsam Ihrer differierende Wahrnehmung mitzuteilen: „Liebes Nervensystem, im Moment besteht keine akute Gefahr – mein Leben ist nicht bedroht. Ich bin in Sicherheit. Ich danke dir für deine Wachsamkeit. Ich bin mir bewusst, dass du es gut mit mir meinst. Ich weiß es zu schätzen, dass du gut auf mich aufpasst und dich für mein Wohlergehen einsetzt. Jetzt kannst du dich allerdings entspannen. Hier ist alles in Ordnung.“
Neben dieser verbalen Botschaft, können Sie auch über den Körper mit dem vegetativen Nervensystem kommunizieren – und zwar über Ihr Herz und über Ihren Atem. Ihr Herz sendet nämlich direkte Signale zu Ihrem Gehirn. Die Sprache, die es dabei benutzt, ist das Muster des Herz-Rhythmus, genauer gesagt die Herzfrequenzvariabilität. Diese wiederum ist über den Atem gezielt zu beeinflussen. Über ein langsames und regelmäßiges Atmen wird es möglich, den Atem- und Herzrhythmus zu synchronisieren. Dann signalisiert das Herz über seine Physiologie dem emotionalen Gehirn: „Es ist alles in Ordnung.“ Das Nervensystem vermag auf diese Weise allmählich wieder in den sogenannten „sicheren Modus“ zu finden und die kaskadenartige Ausschüttung von Stresshormonen wird beendet.

Weitere Hintergrundinformationen finden Sie unter dem Link: Herz-Resonanz >>>

Im Muster der Herzfrequenzvariabilität spiegelt sich die Aktivität unseres vegetativen Nervensystems wider. Um es optimal in Balance zu bringen, ist es wichtig, in einem recht langsamen Rhythmus zu atmen – in einer Frequenz von circa 6 Atemzügen pro Minute, d.h. jeder Atemzyklus dauert dann ungefähr 10 Sekunden. Die Ausatmung ist bei den meisten Menschen etwas länger als die Einatmung, sodass sich häufig folgender Rhythmus ergibt: 4 Sekunden lang einatmen – 6 Sekunden lang ausatmen.

Um diese Methode von Grund auf zu erlernen, braucht es ein gezieltes mehrwöchiges Training und eine Kontrolle über Biofeedback. Ich kann Ihnen mit den beiden Podcasts lediglich einige Anregungen gegeben, um sich mit diesem Ansatz zur Selbstregulierung etwas vertraut zu machen. In der ersten Übungsserie geht es primär um die Verlangsamung des Atems. Über eine gezielte lange Ausatmung trainieren Sie Ihre „innere Bremse“, den Parasympathikus – dieser Teil des vegetativen Nervensystems ist für Ruhe und Entspannung zuständig. Wer zum Beispiel Yoga praktiziert, dem wird vieles bekannt vorkommen.
In der zweiten Übungsserie gebe ich Ihnen eine Einführung, wie Sie in den speziellen Rhythmus der Herz-Resonanz-Atmung finden können. Wer bereits Erfahrung mit bewusstem Atmen hat, wird sich unter Umständen recht schnell in diesen Rhythmus einfinden können. Personen, die bisher noch keine Erfahrungen mit Atemarbeit gemacht haben, sollten Geduld mitbringen und sich einige Zeit gönnen, um den langsamen Atemrhythmus einzuüben.
Ich rate Ihnen, die Podcasts 14 Tage vor Ihrem Zahnarztbesuch mehrere Male in der Woche anzuhören und mit dem angebotenen Werkzeug zu üben, so dass Ihr Organismus Zeit hat, sich mit dieser Form des Atmens vertraut zu machen. Denn nur, wenn er sie gut kennt, wird er in der Lage sein, auch im „Ernstfall“, d.h. während der Zahnbehandlung, in den eingeübten Rhythmus zu finden.
Ich habe Anfang der achtziger Jahre meine Amalgamplomben gegen Gold-Inlays ausgetauscht. Für die Behandlung habe ich mir keine Spritzen geben lassen, sondern mit Übungen aus dem ersten Podcast mein Nervensystem beruhigt und meine Aufmerksamkeit vom Schmerz abgelenkt. Ich weiß, dass es funktioniert. (Damals kannte ich die Synchronisierung von Atem- und Herzrhythmus sowie den Rhythmus der Herz-Resonanz-Atmung noch nicht, den ich in Podcast 2 beschreibe.)

Eines der wichtigsten Elemente ist die Ablenkung von der angstbesetzten Handlung und dem (möglichen) Schmerz. Es nützt wenig, wenn Ihr Verstand Ihnen den gut gemeinten Ratschlag gibt: konzentriere dich nicht auf den Schmerz, auf die Spritzen, den Bohrer. Das ist genau so, wie wenn jemand zu Ihnen sagt: „Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten“. Unser Gehirn kennt keine Verneinung, es hört lediglich: „rosa Elefant“ – und natürlich erscheint der rosa Elefant auf unserem Bildschirm.
Unser Geist ist sehr rege und er braucht „Futter“. Wenn er einen klaren Fokus hat und beschäftigt ist, dann funktioniert die Ablenkung. Sie haben vermutlich schon die Erfahrung gemacht, dass Sie irgendwo im Körper Schmerzen hatten, Ihre Aufmerksamkeit wanderte dorthin und Sie wollten, dass er verschwindet – mit dem Erfolg, dass der Schmerz stärker wurde. Dann haben Sie im Fernsehen einen spannenden Film angeschaut, der Ihre Aufmerksamkeit gefesselt hat – und plötzlich war der Schmerz nicht mehr spürbar.
Der Atem ist ein exzellentes Mittel zur Ablenkung, denn er ist immer bei uns. Er ist wie ein treuer Freund, der uns unser Leben lang begleitet: sieben Tage in der Woche, 24 Stunden lang. Ich rate Ihnen: Gehen Sie nicht ohne Ihren „Atemfreund“ zum Zahnarzt. Wenn Sie ihn rufen, können Sie schon beim nächsten Atemzug seine Präsenz spüren. Geben Sie ihm Ihre gesammelte Aufmerksamkeit – und er wird Ihnen sicherlich helfen.

Es ist nicht notwendig, aus den Podcasts unbedingt die Übungen beider Serien zu praktizieren. Spüren Sie, welches Angebot Sie am meisten anspricht. In der Mehrzahl der Fälle wird es vermutlich ausreichen, die Übungen vom ersten Podcast eine Weile konsequent anzuwenden.

  1. Beginnen Sie damit, sich in einer ruhigen Situation mit den Übungen vertraut zu machen. Sie können sie unter anderem zum Einschlafen benutzen.
  2. Im zweiten Schritt stellen Sie sich vor, dass Sie beim Zahnarzt sind. Lassen Sie die Behandlung wie in einem inneren Film ablaufen: Sie liegen auf dem Zahnarztstuhl, fühlen die Atmosphäre im Praxisraum, spüren Ihren geöffneten Mund und das Absauggerät im Mundwinkel, hören das Geräusch des Bohrers etcetera. Und gleichzeitig praktizieren Sie die Atemübungen – sozusagen als kleine Generalprobe.
  3. Als dritten Schritt beginnen Sie, die erlernten Übungen im Alltag anzuwenden: zum Beispiel als Vorbereitung auf eine Situation, die für Sie mit Stress verbunden ist; oder nach einem stressgeladenen Erlebnis. Beginnen Sie mit kleinen Stressmomenten und beobachten Sie, ob Sie auch dann spontan in den langsamen Atemrhythmus finden können. Überprüfen Sie Ihre bereits erworbene Fähigkeit, Ihr vegetatives Nervensystem zu beruhigen.

Die Angst vorm Zahnarzt ist jetzt vielleicht der Anlass, sich mit dem bewussten Atmen zu befassen. Sie werden allerdings merken, dass Sie auch in vielen anderen Lebenssituationen von dem Gelernten profitieren können. Falls Sie tiefer in die Praxis der Herz-Resonanz-Atmung einsteigen möchten, finden Sie in meinem gleichnamigen Buch ein systematisch aufgebautes sechswöchiges Übungsprogramm, um Stress zu reduzieren und konstruktiv mit Gefühlen umzugehen. Zu meinen Publikationen >>>

Sollten Sie in Ihrem Leben eine traumatische Erfahrung bei einem Zahnarztbesuch gemacht haben, rate ich Ihnen, je nach Schwere des Erlebten, eine Selbsthilfemethode wie EFT anzuwenden oder gegebenenfalls professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen – zum Beispiel mit EMDR zu arbeiten, um die bestehende Gefühlsladung zu neutralisieren.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Experimentieren mit den Übungen aus den beiden Podcasts. Mögen Sie davon profitieren und neue Erfahrungen rund um das Thema „Zahnarzt“ machen. Es wünscht Ihnen alles Gute
Regine Herbig

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